Zur Seeigelsaison nach Marseille

Metropolenrausch und Meeresfrüchte

Azurblaue Fjorde, stachelige Meeresbewohner und ein quicklebendige Hafenstädte. Mit der Piper PA-28 des Fliegerclubs fliegen Max und Sabine Unger von Frankfurt/Egelsbach durch abwechslungsreiche Landschaften an die Küste des französischen Südens.

„Woher man auch kommt, in Marseille fühlt man sich zu Hause“, schrieb Jean-Claude Izzo, Krimiautor und Sohn der Stadt. Neben landschaftlich eindrucksvollen Flugrouten und ebenso grandiosen Bootstouren, entlang der wilden Küste der berühmten „Calanques“, gibt es einen kulinarischen Grund, bis zum Stichtag - alljährlich der 30.April - die pulsierende Metropole anzusteuern. Dann endet die Seeigelsaison. Die Marseiller und angereiste Liebhaber der stacheligen Meeresfrüchte schwelgen darin, bevor die Tiere einige Monate zwecks Vermehrung geschont, über Nacht vom Speiseplan gestrichen und aus überbordenden Auslagen – wie ein Spuk – verschwunden sind.

Einen VFR-Flug ins französische Nachbarland vorzubereiten erfordert beim ersten Mal ein wenig Zeit. Einmal unterwegs leiten die freundlichen Lotsen jedoch in leicht verständlichem Englisch durch alle gewünschten Lufträume und geben gerne Auskunft über den Status der berüchtigten Flugbeschränkungsgebiete.

Zeit, abzuheben: Der Flugplan ist aktiviert und kurz darauf haben wir die von Weinanbau geprägte, flache Elsässer Ebene unter den Flügeln, in der Ferne der Straßburger Münster. Entlang der Vogesen können gelegentlich Störche ausgemacht werden. Die Sicht ist gut und die Luft thermisch, was auch den Motorflieger dynamisch durch die Luft schwingen lässt. Der eng gewundene Fluss Doups, dazu ein Potpourri aus grünen Feldern, Waldstücken und abgelegenen Gehöften -  nach etwa anderthalb Stunden Flugzeit ist das Gebirgsplateau des Jura erreicht. In der Ferne die schneebedeckten, glänzenden Bergspitzen, Gletscher und Eismassive der französischen Alpen. Der mächtige Mont Blanc mit seinem Gipfel aus Firn und Eis ragt heraus. Während des Fluges über das Jura bleibt das legendäre „Dach von Europa“ mit einer Höhe von 4810 Metern ein imposanter Blickfang.

Max erkundigt sich nach dem „Zustand“ der militärischen Tieffluggebiete, die sich in unmittelbarer Nähe zur Flugroute befinden. Der Lotse bestätigt, dass diese derzeit sämtlich nicht aktiv sind, was sich mit den Informationen aus den NOTAMs deckt. Aber sicher ist sicher, bevor uns noch eine Mirage Gesellschaft leistet… Grünes, dicht bewaldetes Mittelgebirge am Rande des Jura. Adieu Berge - jetzt geht´s runter in die Ebene!

Der  Lotse schickt uns direkt über den Meldepunkt November zur Piste 16 von Lyon-Bron. Im Anflug geht´s über die verwunschene Landschaft der tausend Tümpel, die Dombes, Naturschutzgebiet und Weltkulturerbe.

Die Hochhäuser der großen, an den Flüssen Rhone und Saone gelegenen Stadt Lyon in Sicht landen wir nach etwa 3 Stunden Flugzeit. Der engagierte Lotse leitet uns gleich zur Tankstation und schickt uns den Tankwart. Alles läuft reibungslos: Die Landegebühren werden im Hauptgebäude des Flughafens gezahlt und schon sind wir wieder abflugbereit. Unter uns die breite Rhone - Wasserautobahn zum Meer. Hier entsteht der Mistral, ein starker, kalter Fallwind – der über der Flussebene beschleunigt und dann immer schneller auf die Meeresküste zuströmt. Die Lotsin im Funk informiert über Fallschirmsprung- und Segelflugaktivitäten auf der Flugroute und empfiehlt: „Look out“.

Über der Provence fliegend ist der dominante Mont Ventoux mit seinem unverkennbaren Kalkschotterfeld direkt unterhalb des Gipfels leicht aus der Ferne auszumachen. Der 1912 Meter hohe, von starken Winden umströmte Berg zieht Segelflieger nahezu magisch an. Gleich mehrere gleiten am Berghang entlang und gewinnen, in der Thermik kreisend, weitere Höhenmeter.

Den Fluss Durance querend,liegt  links das eindrucksvolle Massiv des St-Victoire, rechts schimmert hellblau das große Meerbecken Etang de Berre. Den Flugplatz von Aix-les-Milles, Piste 15 in Betrieb, voraus die romantische Bergkette Chaine de l´Etoile erreichen wir nach knapp anderthalb Stunden Flugzeit. Nachdem ein Stellplatz gefunden, der Flieger mit Seilen gesichert und der Leihwagen gepackt ist, geht´s ab in die Großstadt – in das echte, herbe, vielfältige, facettenreiche, flirrende, moderne und zugleich uralte Marseille, zweitgrößte Stadt der „Grande Nation“.

Früh morgens am Vieux Port schlendern, kreischende Möwen, helle Fassaden, der kleine Fischmarkt, das faszinierende, verspiegelte Schattendach „Ombriere“ im Licht des Südens. Den Boulevard „La Canebiere“ - Hauptader zum Meer - entlanglaufen und irgendwo rechts abbiegen, plötzlich mitten im Trubel eines nordafrikanischen Basars. Man wähnt sich in den Souks von Tunis und Tanger, orientalische Genüsse und Rituale – es ist wie ein Transfer ins Morgenland.

Ein paar Straßen weiter, im stadtbekannten Meeresfrüchte-Selbstbedienungs-Restaurant „Toinou“. Wirklich alles in den Auslagen verströmt frischen Meeresduft und wird von den frühen Gästen zügig vertilgt. „Die kleinen Seeigel sind aus der Marseiller Bucht. Die größeren aus Galizien“, erklärt der Mann an den Auslagen, öffnet routiniert ein stacheliges Tier und reicht es vorsichtig mit einem „Bon Appetit“. Auslöffeln und genießen.

Zur Verdauung dann den Fußweg hinauf zur Basilika „Notre Dame de la Garde“, die hoch oben auf dem Hügel thront und umwerfende Rundumblicke schweifen lassen über die Stadt mit ihrer herrlichen Bucht.  Im Inneren der Marienkirche prunken prächtige Verzierungen, aber auch ein Mobile mit gelb-rotem Canadair-Löschflugzeug. Das sind betagte, aber bewährte Flieger, die aus dem Flug Meerwasser aufnehmen und die immer wiederkehrenden Waldbrände eindämmen helfen.

Den Hügel geht´s wieder hinunter zum Stadtteil  Endoume. Sportliche Surfer am Plage de Prado rasen übers Wasser. Entlang der quirligen Küstenstraße  ins Vallon des Auffres, paradiesisches Eck unter einem Viadukt: bunte Holzboote im kleinen pittoresken Fischerhafen, an Klippen gepresste Häuschen, leckere Pizza.

Zurück am Hafen, und vom ältesten Viertel Marseilles, Le Panier, mit nahezu dörflichem Charakter,  malerischen Plätzen und hübschen Cafes zwischen schmalen Häusern und engen Gassen, gelangt man über eine Brücke zum mediterranen Dachgarten des alten Forts – nun auch der „Garten der Migration“, eine Hommage an die Menschen unterschiedlicher Kulturen, die einst hier im Marseiller Neuen Hafen anlandeten. Über eine weitere, scheinbar über dem Meer scheinbar schwebende Fußgängerbrücke gelangt gelangt man zum MuCEM, Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres, und seinem Dachcafe. Die sensationelle Fassade aus einem filigranen Betonnetz, das an die Netze der heimischen Fischer erinnern soll, erzeugt wunderbare Lichtspiele und Stimmung zwischen Orient und Okzident. Das Museum steht an der alten Anlegestelle für Atlantikdampfer, wo vor 70 Jahren Flüchtlinge aus allen Teilen Europas aufbrachen. Anna Seghers hat dies in ihrem Roman „Transit“ lebendig festgehalten.

„So offenbart sich Marseille: vom Meer aus,“ schreibt Izzo. Also Zeit ein kleines Boot zu mieten und durch die weite Bucht zu gleiten. Taucher und Speerfischer mit roten Bojen, Kajaks, Windsurfer und Segelboote, Motorboote und Yachten, große Fähren und Kreuzfahrtschiffe - überall wimmelt es auf und in der See.

Weiter geht´s entlang der westlichen, lieblicheren „Blauen Küste“ nach Carry-Le-Rouet mit seinem hübschen kleinen rot-weißen Leuchtturm. Zurück durch die Bucht, vorbei an den vorgelagerten Inseln zur östlichen, wilden Küste mit ihren atemberaubenden Kalksteinklippen zum kleinen Fischerort Cassis, dazwischen die Calanques - romantische Fjorde. Und abends schließlich genießen wir in einer Kneipe nahe der Calanques windgeschützt ein kühles Bier und blicken auf die bei Mistral hoch aufschäumenden Meeresbrecher.

Tief hängen die Wolken am nächsten Morgen. Wir starten in Aix-les-Milles und landen gleich wieder im provenzialischen Carpentras. Nicht gerade weit gekommen… Hier managt Didier den Flugplatz, und beim gemeinsamen Wettercheck mit heimischen Piloten wird schnell klar: Da braut sich unerwartet ein Unwetter zusammen, und an einen Weiterflug ist vorerst nicht zu denken. „Ab Lyon beginnt der Norden, aber hier im Süden lebt es sich besser“, sind sich die Franzosen lachend einig. Es ist schon Mittag und nach einer kurzen Fahrt in einem filmreifen, alten Auto über die Landstraße, besorgen Didier und ich in einer urigen Bäckerei köstliche, mit heimischem Käse und Schinken belegte, Baguettes. Einer der dort ansässigen Piloten fährt uns später zu seiner nahen Pension in einem kleinen Dorf, bereitet für alle seine Gäste Ente a l´Orange und schenkt abschließend Mirabellenschnaps aus: „Hat ein Freund gemacht! Sehr gut, sehr stark“, verrät er augenzwinkernd.  Am nächsten Morgen, früh am Platz: Unser Flieger im Nebel - reine Poesie. Mystisch anmutende Schwaden wabern, verwehen, lösen sich endlich auf. Vier Stunden später sind wir wieder am heimischen Flugplatz Frankfurt/Egelsbach - und fühlen uns nun auch in Frankreichs ältester Stadt ein wenig zu Hause.

Text und Bilder: Max und Sabine Unger